Früher ging es in der Theaterwerbung um Stücke, Inszenierungen, Kostüme, Emotionen, Rhythmus, Klang, Witz, Symmetrie, Eleganz, Zauber. Wir diskutierten über Imagewerbung und Abokampagnen, über Untertitel und Bildausschnitte. Mit harten Bandagen kämpften wir um Farbverläufe, den Einsatz von Haze auf Fotos, Halbsätze, Semikolons. Wir kamen uns unglaublich wichtig dabei vor. Wir waren die Wächterinnen über Sinn und Ästhetik. Die Simultandolmetscherinnen aus dem Dramaturgischen ins Deutsche. Wir waren die Kommunikationsabteilung des Theaters. Wir lebten im La-la-land der Kunst.
Aktuell kann man das nicht mehr wirklich behaupten. Jetzt geht es um Abstandsgebote auf der Bühne (Schwimmnudeln, Klebestreifen, herumstehende Objekte und Armlängen tragen hierzu bei), um Mund-Nasen-Schutz, um Desinfektionsmittel, um gereinigte Sitzplätze, kontaktloses Kartenabreißen, Plexiglasscheiben, Einbahnstraßensysteme, Platzkapazitäten, Nachverfolgung von Infektionsketten, Daten- vs. Infektionsschutz, neu einzurichtende Saalpläne mit freien Reihen und Plätzen (die Säle sehen aus wie Schweizer Käse), Hände waschen, Schachbrettmuster. Beinahe wöchentlich ändern sich die Regelungen, Gastro ja/nein?, 12 Meter, 6 Meter, 4 Meter, aber in welche Richtung? Und wer stößt wie viele Aerosole aus? Was ist eigentlich exzessives Sprechen und hat mal jemand seine Hand vor einen Trompetentrichter gehalten, wenn da einer reinbläst? Die Kommunikationsabteilung beugt sich also – wie alle Menschen im Theater – ihrem Schicksal. Ästhetik und Kunstsinn weichen Komposita-Neologismen wie coronatauglich, coronakonform, coronabedingt, Corona-Fassung, Corona-Dies-Das-Ananas. Wir gestalten täglich Hygieneplakate, Hinweisschilder, Kohortenrundbriefe, Infozettel für Abonnent*innen, wir posten Bilder vom Hygienekonzept und machen Instastories zum geänderten Kartenkaufprozedere, wir versuchen zu erklären, wie großartig unsere Frischluftanlage ist, welche Vorstellung mit welchem Saalplan angeboten wird, wann der Mund-Nasen-Schutz abgenommen werden kann und warum es leider nicht geht, Heidi und Eduard aus dem Nachbarhaus die freien Plätze neben sich anzubieten, wenn man sie im 3. Rang erspäht … Man ringt mit sich, ob das Corona-Thema in der Beschreibung der Kunst eine Rolle spielen sollte, oder ob es nicht besser wäre gleich darauf zu verzichten – wir leben ja schließlich alle in der gleichen Welt, zur gleichen Zeit. Aber dann erntet man wieder verdutzte Blicke, wenn ein Paar einen Pas de deux tanzt – innig verschlungen. Ja, sie sind auch im echten Leben zusammen. Wohnen in einer Infektionsgemeinschaft (Gibt es eigentlich schon einen Vorschlag für das Unwort des Jahres 2020?). Wir ersinnen Worte für bestimmte Muster im Saalplan: Abstandsplan, Kohortensystem, Schachbrettmuster, Pärchenschachbrett, Kohortenschachbrett (aber da kann man dann wieder drei und vier zusammenhängende Plätze nicht im Web verkaufen, da Käufe verschiedener Haushalte nebeneinander nicht ausgeschlossen werden können, darum geht das gar nicht!). Wir scherzen über Halma, Backgammon, Mensch ärgere dich nicht. Aber wer kennt eigentlich noch diese Brettspiele?
Nebenbei droht von allen Seiten der Niedergang der gesamten Kunstform Theater. Ohne Abonnent*innen, wenn eine ganze Spielzeit wegbricht, wie kann das jemals wieder voll werden? Wenn viele Leute aus diffuser Angst, Besorgnis oder auch nur Bequemlichkeit fernbleiben, da sie sich nicht mit etwaigen Änderungen befassen möchten. Da helfen auch die täglichen „Aber-wir-kümmern-uns-um-alles-Bekundungen“ nicht. Diffus ist diffus. Das ist die viel beschworene „German Angst“. Die geht nicht einfach weg, wenn man sagt, dass sie unbegründet ist. Und wie geht man damit um, wenn vom treuen Publikum, das der potenziellen Gefahr trotzt, jetzt schon die Rückmeldung kommt „wie schön, dass man mal so viel Platz in alle Richtungen hat“. Muss man solche Briefe beantworten? Meinen die das ernst oder sind sie sich eigentlich doch auch sicher, dass dieses Feedback in den Ohren der Kunstschaffenden nur wie ein Scherz klingen kann? Reicht unser Vertrauen gegenüber der alten Tante Theater, dass schon irgendwann wieder alles so wird, wie es (nie) war? Oder müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen? Wie viel Druck sollten wir auf die Politik ausüben? Wie viel Lockerung uns erstreiten? Und was, wenn doch ein Superspreader einen gesamten Saal ansteckt und die Theater fortan als Hotspot des Infektionsgeschehens gelten? Steht die Kultur dann unter Generalverdacht? Macht man sich dann Vorwürfe, weil man sein Publikum aller Sicherheitsbekundungen zum Trotz nicht schützen konnte? Ist es dann für immer vorbei mit einem muckeligen Saal, dicht an dicht, wo man für die Zuspätkommenden aus der Reihenmitte noch mal aufsteht, während diese sich bei jedem Aufstehenden entschuldigen/bedanken? War es das mit den magischen Momenten, in denen ein gesamter Saal zusammen aufatmet, auflacht, aufbraust, aufsteht? Ich hoffe es nicht. Denn ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
Foto: Olaf Struck