2. FC Opera

Meine letzte Opernpremiere vor dem Lockdown war am 7. März die monumental besetzte Grand Opéra Die Trojaner von Hector Berlioz. Tags darauf war ich beim Zweitliga-Spiel Holstein-Kiel gegen Greuther-Fürth. Aufmerksame Leser*innen dieses Blogs werden sich vielleicht daran erinnern. Es erscheint, acht Wochen später, als völlig absurd. Die Idee, mit Chris ab sofort regelmäßiger über Fußball und Theater zu sinnieren, zu philosophieren und zu debattieren, um sich gegenseitig in Interessensfelder einzuführen, wich schnell den allgemein üblichen Gesprächsthemen: Corona hier, Corona da. Nun nehmen beide Themen – Fußball und Theater – aber wieder an Fahrt auf und wir haben uns ein bisschen ausgetauscht.

You’ll never walk alone – Zur Situation im Fußball

Was man im Zuge der Lockerungsdiskussion sehr gut sehen kann, ist, dass Geld die Welt regiert. Die DLF hat ein Hygienekonzept für Geisterspiele ausgearbeitet, hat die Kohle, um alle Spieler der ersten und zweiten Bundesliga plus Teams regelmäßig auf Corona testen zu lassen, Fußball wurde auch in der Politik schnell als wichtiger erachtet denn Versammlungs- und Religionsfreiheit, und mit der richtigen Lobby gehen politische Entscheidungen schneller als man sich umschauen kann. Die erste und zweite Bundesliga wollen also ihre Saison zu Ende spielen, alle fehlenden Spieltage wie geplant, zuzüglich der ausgefallenen. Doch schon bevor es losgeht, muss die Mannschaft von Dynamo Dresden wegen zweier positiv getesteter Spieler in eine vierzehntägige Quarantäne. Das kann ja heiter werden.

Chris hatte gleich ein paar Alternativideen, wie man diese Saison auch hätte beenden können: Alle Vereine für sieben Wochen in eine Art Trainingslager-Quarantäne stecken. Alle Vereine für kürzere Zeit in eine Trainingslager-Quarantäne stecken und die Spiele so schnell es geht hintereinander stattfinden lassen. Alle Vereine in eine noch kürzere Quarantäne stecken und ein Turnier daraus machen, mit jeweils 2×20 Minuten langen Spielen. Elfmeter-Schießen anstatt Spiele. Die fußballhungrige Nation hätte sich doch auch das mit Freuden im Fernsehen angeschaut. Aber nein, die Bundesliga muss nun einmal spielen und ein Spiel hat eben 90 Minuten. Ein vorzeitiges Ende der Saison wie z. B. im Handball – das kann man den Fans vor den heimischen Bildschirmen doch nicht antun. Wohlgemerkt wird dieser abstruse Entschluss gefasst, während immer noch Tausende Kinder und Jugendliche zuhause sitzen anstatt in die Kita oder in die Schule zu gehen. Es wird so getan, als sei Fußball das unverzichtbarste Kulturgut Deutschlands. Das zeigt sich auch, wenn die Politik darüber spricht. Fußball hat in diesem Land einfach eine Sonderstellung. Dabei gehen jedes Jahr deutlich mehr Menschen in Deutschland ins Theater als ins Stadion.

Sein oder Nicht-sein – Zur Situation im Theater

Womit wir bei meinem Thema wären. Allein das Gedankenexperiment, man würde in allen deutschen Theatern und Orchestern alle Beteiligten regelmäßig auf Corona testen und könnte dann einen Normalbetrieb auf den Bühnen und in den Konzertsälen vor achtsam auseinandersitzendem Publikum veranstalten, erscheint wahnsinnig. Allein das künstlerische Personal an deutschen Bühnen beläuft sich auf über 18.000 Menschen. Aber wir sprechen hier nicht nur von Schauspieler*innen, Sänger*innen, Chorist*innen, Statist*innen, Tänzer*innen und Orchestermusiker*innen, sondern auch von Bühnentechniker*innen, Maskenbildner*innen, Ankleider*innen, Souffleur*innen, Beleuchter*innen, Tontechniker*innen, Inspizient*innen, Abendspielleiter*innen und allen Gästen, die neben den fest engagierten Mitarbeiter*innen auf den deutschen Bühnen auftreten und dafür munter durch die Lande reisen. Ausweiten lässt sich dieses „Wir-testen-sie-alle“-Gedankenexperiment noch insofern, als dass man ja nicht nur die alten Schinken rauf und runter spielen wollen würde, sondern auch mal eine nette Premiere geben wollte. Weitere Tests wären also notwendig für die Beschäftigten in den Werkstätten, das wären: Tischler*innen, Schlosser*innen, Schneider*innen, Maler*innen, Lackierer*innen, Plastiker*innen, Requisiteur*innen, Gewandmeister*innen, Hutmacher*innen und noch einige mehr. In einem mittelgroßen deutschen Theater arbeiten in mehreren künstlerischen Sparten locker 500 Menschen. Das, was in normalen Zeiten der enorme kulturelle Reichtum Deutschlands ist, wird ihm während einer Pandemie zum Verhängnis.

Die Bundesliga-Maßnahme lässt sich schon mal nicht anwenden. Man muss stattdessen über ein „Corona-sicheres“ Theater nachdenken. Ein aufwändiges Make-Up vor der Vorstellung, ein fliegender Umzug auf der Seitenbühne, 50 Chorist*innen singend auf engstem Raum? Das voll besetzte Orchester im Graben? Das geht alles nicht. Wie kann ein Theater auf der Bühne aussehen, bei dem das Abstand halten zwischen zwei Schauspieler*innen nicht wie eine Notlösung aussieht, sondern künstlerisch gewollt ist? Wo spielerisch und augenzwinkernd mit den aktuellen Beschränkungen umgegangen wird? Denn auch das Publikum möchte bei einer Vorstellung sicherlich nicht laufend mit dem über allem schwebenden Thema Corona konfrontiert werden. Während man sich über künstlerische Formate Gedanken macht, steht aber parallel noch die Erarbeitung eines Hygienekonzeptes für das komplexe Konstrukt Theater auf der Tagesordnung – denn egal, mit wie viel Abstand man auf der Bühne steht, die Liste der in einen Proben- und Produktionsprozess involvierten Menschen ist lang, ein Konzept, wie der Bühnenbetrieb funktionieren kann, folglich nicht einfach. Daher mutet es auch wie eine Posse an, wenn jetzt holterdiepolter ab 30. Mai in Nordrhein-Westfalen wieder Theater gespielt werden können soll. Wo doch gerade quasi alle Theater ihre Spielzeit 2019/20 vorzeitig beendet haben. Die Politiker*innen schreiben, dass der Proben- und Vorstellungsbetrieb „unter Auflagen“ möglich sei, aber um welche Auflagen es genau geht, das sagen sie nicht. Die Theater machen sich ihre Gedanken, reichen ihre Vorschläge ein – und warten auf Rückmeldungen mit bindenden Regularien. Die Berliner Orchester marschieren voran und lassen eine Studie durchführen, wie viele Aerosole aus einer Trompete und einer Flöte herauskommen und was das nun für den Abstand im Orchestergraben bedeutet. Bis all diese ermittelten Ergebnisse in Genehmigungen und Gesetze geflossen sind, wird noch einige Zeit ins Land gehen. Für eine gemeinsame künstlerische Begegnung auf der Bühne (auch mit Abstand), dauert es also noch ein bisschen. Bis es soweit ist, sind kreative kontaktlose Lösungen gefragt: Am Theater Oberhausen probiert man es mit Hörspaziergängen für jeweils zwei Personen, am Deutschen Theater Göttingen mit einem Drive-Through-Theater in der Tiefgarage – wer kein eigenes Auto hat, kann im Taxi vorbeikommen. Ich bin schon gespannt darauf, was sich durch die Kontaktbeschränkungen noch alles entwickeln wird. Denn die Vorstellung, im kommenden halben Jahr nur Monologe, Kammerkonzerte und Solo-Tanzperformances erleben zu können, finde ich nicht gerade erbaulich …

Vergleicht man Fußball und Theater, werden für mich vor allem zwei Dinge klar: Wie Fußball zu funktionieren hat, ist in Stein gemeißelt, das wird auch wegen eines Virus nicht geändert. Unterstützung dafür kommt prompt von der Politik. Im Theater steht das Hinterfragen des eigenen Wesens schon seit Jahren im Fokus. Das Virus beschleunigt diesen Prozess: Es zwingt die Theater zum Um- und Neudenken. Sehen wir es als Chance.

Foto: „Die Möwe“ als verkleinerte Corona-Edition, Screenshot der online verfügbaren Produktion des Theater Kiel

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