Theatertreffen virtuell – Theatertreffen demokratisch

Ich arbeite am Theater. Gerade deswegen habe ich nicht dauernd Zeit, um mir im deutschsprachigen Raum interessantes Theater anzuschauen – es kollidiert einfach zu oft mit eigenen Premieren, Sonderveranstaltungen, Philharmonischen Konzerten … Umso besser, dass es einmal im Jahr, immer im Mai, das Theatertreffen in Berlin, mit den „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen“ eines Jahres gibt. Dumm nur, dass ich da dann auch nie hinfahren kann, siehe oben (und Karten kriegen ist auch noch so ein Thema).

Deswegen ist es ein Gewinn, dass das Theatertreffen 2020 aufgrund der Corona-Pandemie virtuell im Netz stattfindet. Endlich kann ich diese bemerkenswertesten Inszenierungen auch mal sehen, mir selbst eine Meinung darüber bilden und in Nachgesprächen mitverfolgen, was die Macher*innen und die Jury zu den Arbeiten zu sagen haben. Klar, die Qualität der Streams ist unterschiedlich gut, und es liegen auch nur sechs der zehn Stücke als Mitschnitt vor, aber es ist – zumindest für mich – ein Gewinn. Ich muss nicht in der Gegend herumfahren, und falls mich eine Inszenierung nicht umhaut, ist der Schaden nicht so groß. Bis jetzt habe ich also den Bochumer „Hamlet“ von Johan Simons gesehen, dann „Anatomie eines Suizids“ von Alice Birch (Regie: Katie Mitchell) aus dem Hamburger Schauspielhaus und „Die Kränkungen der Menschheit“, eine meditative Performance von Anta Helena Recke (Koproduktion von den Münchner Kammerspielen, dem Berliner HAU, Kampnagel Hamburg und dem Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm). Es zeigt sich bereits an Tag 3 wie extrem unterschiedlich die eingeladenen Inszenierungen sind.

„Hamlet“: Extrem reduziert, auf fast leerer Bühne mit starken Darsteller*innen, die einen direkt mitnehmen in das Seelenleben des jungen Prinzen. Da gibt es gar nicht viel mehr zu sagen, außer das Sandra Hüller (Hamlet) und Gina Haller (Ophelia) wunderbar sind und die live erzeugten Sounds von Mieko Suzuki Gänsehaut erzeugen!

„Anatomie eines Suizids“: Ein in drei Zeitebenen/Geschichten parallel erzähltes Mehr-Generationen-Drama, das mich spontan an Bov Bjergs Roman „Serpentinen“ erinnert hat, da die Hauptfigur in beiden Storys versucht eine familiäre Suizid-Spirale zu durchbrechen. Sehr kunstvoll arrangiert, Klippklapp über parallele Szenen hinweg – da ist Multitasking gefordert. Hat mich in der Machart sehr beeindruckt, wenn ich auch am Anfang etwas gebraucht habe, um reinzukommen.

„Die Kränkungen der Menschheit“: Eine meditative Installation, die (bei mir) dauernd changiert zwischen Betrachtung und Betrachtet-Werden. Sehr körperlich, tatsächlich kränkend (im Mittelteil gibt es eine typische Kunstmenschen-Diskussion, die lebensnah und dabei extrem schmerzhaft ist). Ausgangspunkt ist übrigens das Gemälde „Affen als Kunstrichter“ von Gabriel von Max.

Wer das jetzt alles verpasst hat, darf nicht traurig sein, denn drei weitere Inszenierungen kommen ja noch. Am Montag ist wie sonst auch immer spielfrei – am Dienstag geht es weiter mit „Süßer Vogel Jugend“ (des, man kann es schon gar nicht mehr anders sagen, TT-Dauergastes Claudia Bauer), am Mittwoch mit den Experten des Alltags von Rimini Protokoll (diesmal sind es Menschen, die am Tourette-Syndrom leiden) in „Chinchilla Arschloch, waswas“ (ich mein, allein der Titel!) und am Freitag geht es mit „The Vacuum Cleaner“ dann noch zu den Hikikomoris von Toshiki Okada. Und das ist ja nun mal fast wie ein Wink des Schicksals, denn aktuell sind wir ja alle kleine Hikikomoris #stayhome.

Ich danke also den Berliner Festspielen, dass sie mit Theatertreffen virtuell eine Öffentlichkeit herstellen, die sonst – im Closed-Shop Berliner Blase – nicht möglich ist. Es wäre wirklich ein Gewinn, wenn Theatertreffen virtuell auch in den kommenden Jahren fortgeführt werden könnte. Natürlich parallel zu den Live-Aufführungen in Berlin mit allen Sektempfängen, Stehtisch-Diskussionen, Urkunden-Überreichungsküsschen und wilden Aftershow-Partys. Als kleine Anregung noch am Rande: Ich fände es super, wenn man auch ohne Twitter an den Nachgesprächen partizipieren könnte, denn nicht jede*r hat Twitter (und sorry, aber so wichtig bist nicht mal du, liebes TT, als dass ich mich da jetzt auch noch anmelden würde). Aber über ein Kommentarfeld, Gästebuch oder ähnliches ließe sich doch eine Teilhabe auch easy realisieren, meint ihr nicht?

Eine Anmerkung noch zum Schluss: Ein Portal, das aktuell alle Fäden zusammenhält, was die Theaterangebote während Corona angeht, ist das auch sonst immer tolle nachtkritik.de. Was sich aber jetzt noch mal ändert, ist, dass nachtkritik aufgrund des ruhenden Theaterbetriebs aktuell sicherlich viele Anzeigenkunden weggebrochen sind. Ich habe meine Spende schon überwiesen.

Foto: Szene aus „Die Kränkungen der Menschheit“ (Screenshot)

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