Wir sind der Teesatz dieser Zeit

Eigentlich wollte ich heute darüber schreiben, wie es war, als ich eine Stunde auf den Beginn eines Konzertes warten musste, weil die Uhrzeit im Terminkalender der Zeitung falsch angegeben war. Der Entwurf war schon fertig – ich hatte ja eine Stunde Zeit gehabt. Im Omasessel sitzend, Kuchen essend, auf dem Smartphone herumtippend, die anderen Zu-Früh-Gekommenen beobachtend. Aber dann begann das Konzert, und ich schämte mich dafür, auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht zu haben, warum das Warten auf Hannes Wittmer einen Blogbeitrag wert sein sollte. Das beste Werk über das Warten gibt es ohnehin schon, der Unterschied ist, dass Godot nie kam. Hannes Wittmer aber schon.

Und es hat sich gelohnt, vielleicht waren meine Ohren und mein Herz sogar offener als eine Stunde zuvor. Der Singer-Songwriter Hannes Wittmer (formerly known as Spaceman Spiff, wobei er erläuterte, dass es „mit Mitte 30 Zeit“ sei, den Künstlernamen einer Comicfigur zurück in den eigenen, echten zu ändern) und seine Mit-Musikerin Clara Jochum spielten 1 h 45 im Fahrrad Kino Kombinat in der Alten Mu mit traurigen und trotzdem hoffnungsvollen Liedern. Hannes sagt dazu: „Ich hab‘ gar keine anderen“ und nennt sie „Downer“, spielt dann aber doch eine Up-Speed-Nummer, die er mal für seine nie aufgelöste Punkband geschrieben hat. Diesen Song beschreibt er dann wiederum als „flott“, wofür man ihn herzen und drücken will, weil „flott“ ein so herrliches Wort ist, das viel zu selten ausgesprochen wird. Wobei das Wort auch nur von Hannes Wittmer gesagt werden kann, ohne albern, altmodisch, geeky oder alles zusammen zu klingen.

Hannes Wittmer ist ein sehr ernsthafter Mensch und Musiker, er überlegt viel, findet in seinen Texten keine einfachen Lösungen, sondern dröselt die Sache auf, beleuchtet sie von verschiedenen Seiten, macht keinen Hehl darum, dass er sich auch gerne mal selbst widerspricht (Han Solo – es gibt keine Helden, Oh Bartleby – vielleicht gibt es doch Helden). Dieses grundsätzliche Überlegen und Zweifeln ist auch der Grund dafür, dass das nachmittägliche Konzert auf „Pay-what-you-can“-Basis und sein neuestes Album Das große Spektakel nur auf seiner Website und nicht im Handel und schon gar nicht bei den großen Streaming-Plattformen zu finden ist. Denn Hannes Wittmer will keine Geschäftsbeziehung mit uns eingehen. Was er dann will? Zunächst einmal das Publikum für eine Weile gut unterhalten, was problemlos gelingt. Und vielleicht will er auch eine andere Beziehung mit uns eingehen. Ich jedenfalls fühle mich fast wie seine Komplizin. Wir alle sind doch der „Teesatz dieser Zeit“.

Der Titel seines aktuellen Albums, Das große Spektakel, ist angesichts der Tatsache wie ruhig und traurig seine Lieder sind, vielleicht misszuverstehen, wenn man aber bedenkt, in was für einer irren Welt wir leben, wo selbst „der Wahnsinn verrückt wird“, dann stimmt der Titel schon sehr gut. Und ich habe auch keinerlei Zweifel daran, dass Hannes Wittmer tatsächlich Gefahr läuft, „seine Ängste zu verlieren“, dafür denkt er einfach zu viel nach. Was die Texte so fein macht, liegt nicht nur an den übergeordneten Themen (unsere Generation, die viel beschworene „Y“, kann sich einfach nicht entscheiden), sondern auch an den klugen Metaphern: Man kann sie nicht einfach so nickend bestätigen, sondern muss sie erst einmal in Kopf und Herz bewegen, manchmal so lang, dass sie einen wegtragen, während der nächste Song schon längst begonnen hat, was aber nicht schlimm ist, denn „Rom wurde auch nicht … naja …“

Hand in Hand mit den Texten der Lieder geht die Tatsache, dass Hannes Wittmer ein sehr guter Gitarrist, ein ziemlich mieser Pianist (und dabei umso charmanter!) und ein Erzähler ist, dem man einfach gerne zuhört. Das Publikum freut sich darüber zu erfahren, dass die zwei Stücke Kuchen, die er vor dem Konzert („vor allen anderen“) verspeist hat, dazu führen, dass er während des Konzertes aufstoßen muss. Und seine Sorge, dass jetzt alle ihren Fokus verlagern würden, wenn er weiterspielt? Völlig unbegründet. Mal nimmt er die falsche Gitarre in die Hand, mal lässt er sich von Clara am Cello bestätigen, dass er in der richtigen Tonart ist, einmal stößt er den Mikroständer um, was das Publikum mit anteilnehmender Geräuschkulisse untermalt, seine Tophits Teesatz und Vorwärts ist keine Richtung spielt er mitten im Set und kommentiert diese Entscheidung mit der Angst, dass nun die Gefahr bestünde, die Konzertbesucher*innen könnten das Konzert verlassen. Alle im Raum wissen, dass diese Gefahr nicht besteht. Wir sind längst zu Kompliz*innen geworden.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s