Violinkonzerte – ein Produkt von Zufall und Lebensrealität

Alle drei Jahren treffen sich in Hannover 32 junge Geigerinnen und Geiger aus aller Welt – wobei, man kann sagen:  mehrheitlich aus Asien (Länder wie Neuseeland, Australien, USA und Kanada sind mit je einem Talent vertreten, aus Europa/Russland kommen neun Teilnehmer*innen), und zeigen sich im Internationalen Joseph Joachim Violinwettbewerb, der von der Stiftung Niedersachsen ausgerichtet wird. Man kann von Musikwettbewerben halten, was man will – auch der JJV wird regelmäßig kritisiert, wenn wieder einmal Schüler*innen des nicht stimmberechtigten Jury-Vorsitzenden und künstlerischen Leiters Krzysztof Wegrzyn ins Finale einziehen, die andere dort vielleicht nicht gesehen hätten* – dennoch mag ich den Gedanken, ein zweiwöchiges Fest der Violine zu veranstalten und dem Publikum im Grunde nichts anderes als einen Haufen feinster Konzerte in unterschiedlichen Besetzungen anzubieten.

Den kompetitiven Gedanken kann man zwar kaum ausblenden, der Mensch neigt eben zum mitfiebern, aber genießen kann man die Wettbewerbsrunden in jedem Fall. Das Schöne ist, dass den Teilnehmer*innen bei der Auswahl der Stücke für ihr Programm sehr viel Freiheit gelassen wird. Gesetzt sind in der ersten Vorrunde lediglich die Romanze von Joseph Joachim sowie im Semifinale das zeitgenössische Auftragswerk, in diesem Jahr „Hauch“ von Rebecca Saunders. Das führt zu einer schönen Vielfalt an Programmen und zeigt auch, ob die jungen Musiker*innen (manche sind noch keine 18 Jahre alt) ein Gespür für die Zusammenstellung eines Konzertprogrammes haben. Auch die Einführung der Kammermusik im Finale – die Finalist*innen durften gemeinsam mit dem Kuss Quartett ein Streichquintett nach Wahl musizieren – ist eine tolle Sache, gehört doch Kammermusik zum Berufsmusiker*innenleben schlicht und ergreifend dazu und zeigt, ob man auch zuhören, Kontakt aufnehmen, kommunizieren kann. Und dann das Finale: Hier steht den Geiger*innen tatsächlich frei, welches große Violinkonzert sie mit der NDR Radiophilharmonie unter Andrew Manze spielen möchten, wobei aus guten Gründen Ligeti und Gubaidulina eher nicht empfohlen werden. Und hier kommt nun die Hannoversche Allgemeine Zeitung um die Ecke und beschwert sich darüber, dass „dieses bemerkenswerte Angebot allerdings nicht [genutzt wurde]. Alle sechs Finalisten waren an solchen Freiheiten nicht interessiert. So standen am Donnerstag und Freitag im Funkhaus zum Teil mehrfach die üblichen Werke auf dem Programm: Tschaikowsky war dreimal zu hören, Sibelius zweimal und einmal Mendelssohn. Bei einem der höchstdotierten Musikwettbewerbe der Welt ist am Ende auch nur das zu hören, was überall zu hören ist: An der Vielfalt des Repertoires gemessen war dieses Finale eine Enttäuschung.“ Dazu ist zunächst einmal folgendes zu sagen: Alle Teilnehmer*innen haben ihre Auswahl schon vor dem Wettbewerb getroffen, sodass die Zusammensetzung der Werke in den beiden Finalkonzerten also tatsächlich ein Produkt des Zufalls ist. 3x Tschaikowsky, 2x Sibelius und 1x Mendelssohn? Es hätte auch schlimmer kommen können – oder weitaus vielfältiger. Denn unter den 32 Teilnehmer*innen haben sich zehn für Sibelius (op. 47), acht für Tschaikowsky (op. 35), vier für Mendelssohn (op. 64), je drei für Brahms (op. 77) und Dvořak (op. 53), zwei für Schostakowitsch (op. 77) und je eine*r für Prokofjew (op. 43) und Bartók (Sz 112) entschieden. Klar, da gibt es einige Mehrfachnennungen und das sind natürlich alles große Werke, aber doch bilden sie musikhistorisch eine schöne Bandbreite ab. Wie kommt es nun aber zu dieser Auswahl?

  1. Barocke, frühklassische und klassische Konzerte bis Mozart scheiden aus – sie sind spieltechnisch einfach eine andere Kategorie und verlangen technisch weniger virtuose Fertigkeiten, aber man will sich von seiner besten Seite zeigen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich niemand für das Beethoven-Konzert entschieden hat.
  2. Erstaunlich ist, dass niemand Schumann, Korngold und Bruch gewählt hat, spielen diese Konzerte doch in der Kategorie der ausgewählten. Ich würde frech spekulieren: Zufall.
  3. Die Offenheit des Wettbewerbs in allen Ehren, aber es muss schon beachtet werden, dass eine völlig abwegige Wahl etwas an der Lebensrealität junger Musiker*innen vorbeigeht. Die erarbeiten ein gewisses Repertoire für das „normale“ Konzertleben und einen Haufen Wettbewerbe, die man in einer gewissen Periode des künstlerischen Lebens bestreitet. Für den JJV sind das rund 180 Minuten Programm, solistisch, mit Klavier, in der Kammermusikformation und mit großem Orchester. Darunter die Joachim-Romanze, die man schnell aufwärmen muss, und ein zeitgenössisches Auftragswerk, das recht kurz vor dem Wettbewerb bekanntgegeben wird. Dass sie dann nicht auch noch Zeit haben ihr restliches Programm, inklusive des Konzertes für das Finale, mit musikhistorischen Raritäten aufzumöbeln, liegt auf der Hand. Denn deren Tag hat schließlich auch nur 24 Stunden. Sicher wäre ein Wieniawski, Lutosławski oder Schnittke eine feine Sache für die Abwechslung des Publikums gewesen, aber das zaubert man halt nicht mal einfach so aus dem Hut, wenn man für einen anderen Wettbewerb vielleicht ohnehin gerade Tschaikowsky oder Sibelius vorbereitet.

Insofern – ich habe es genossen, die verschiedenen Versionen der dargebotenen Schlachtrösser der Violinliteratur zu vergleichen und ein paar interessante junge Geiger*innen hautnah erleben zu dürfen. Wir sehen uns in 2021.

*eine Tatsache, die sich durch das Internet mit seinen Kommentarspalten und der Möglichkeit zur Live-Partizipation via Livestream immens verstärkt

Foto: Helge Krückeberg

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